Vera Mercer
Nach ihrer Heirat mit Daniel Spoerri war Vera Mercer Teil der Pariser Künstleravantgarde der frühen 1960er Jahre; sie porträtierte Marcel Duchamp und Robert Filliou, Niki de Saint-Phalle, Jean Tinguely und immer wieder Spoerri. Parallel zu diesen Porträts photographierte sie auch die alten Pariser Markthallen kurz vor deren Abriss. Hier begegnete sie erstmals einem Thema, das sie seitdem beschäftigt: Nahrung wie Früchte und Gemüse, Fleisch und Fisch im ganzen Stück oder Teilen – und das spätere Arrangement im heimischen Studio sowie die Zubereitung und Essensaufnahme in (den eigenen) Restaurants. Mercer stellt sich mit ihren Blumen-, Früchte- und Tierstillleben jenseits zeitgenössischer Kunstmoden, eher lassen sich Bezüge zur klassischen Kunstgeschichte herstellen. Die Photographin wird hier mit dem Dreiklang - Les Halles in Paris, Stillleben, eigene Restaurants in Omaha – vorgestellt. So verbinden sich Leben und Werk, und so kontextualisiert sie die Orte der Nahrung: Markt, Küche und Restaurant, neu. In manchen Stillleben rückt Mercer die jeweilige Aufnahmesituation insbesondere durch die extremen Größenverhältnisse ins Absurd-Surreale. Gelegentlich ist die räumliche Staffelung der Dinge im Bildraum so verwirrend, dass Vorder- und Hintergrund kaum mehr getrennt werden können. Frisches Gemüse und Fisch, halbverblühte Blumen und Tierschädel, also alle Grade der Vergänglichkeit, existieren einträchtig nebeneinander. Klassische Vanitasmotive wie Schädel oder halb heruntergebrannte Kerzen gemahnen – als memento mori – symbolhaft an die eigene Sterblichkeit.
Vita | |
1936 | geboren in Berlin, Vera Mertz |
1958 | Heirat mit dem Künstler Daniel Spoerri, Ausbildung zur Photographin |
1960 | Freundschaft mit der Künstlerin Eva Aeppli (Partnerin von Jean Tingueli) |
lebt und arbeitet in Omaha, Nebraska, USA und in Paris, F |
Einzelausstellungen (Auswahl) | |
2013 | Sherry Leedy, Kansas City Flower Show, Bernis |
2012 | Nature Morte, Centro de las Artes de Nuevo León, Mexico Galerie Jordanow, München |
2011 | H2Openspace, Trieste, I, Bernis Centre for contemporary arts, Omaha Nature Morte, Centro Regional de las Artes de Michoacán, Zamora, Mexico |
2010 | Museum of Nebraska Art (MONA), Omaha, USA Kommunale Galerie Berlin |
2008 | Still Morte, Galería Manolo Rivero, Merida, Mexico. |
1998 | Flores, Galería Rosano, Mexico City, Mexico |
1998 | Flores, Fototeca de Veracruz "Juan Malpica Mimendi", Veracruz, Mexico |
Publikationen
Vera Mercer, 2010, Text: Matthias Harder, Hrsg. Matthias Harder, Kehrer Verlag Heidelberg
Particular Portraits, 2014, Distanz, Berlin
The Boilerroom and It’s People, 2015
Text: Matthias Harder
Als sie 1973 mit ihrem zweiten Ehemann Mark Mercer aus Paris nach Omaha in den amerikanischen mittleren Westen
kam, verwandelte die Künstlerin gemeinsam mit ihrem Mann und dem Designer Cedric Hartmann einen leerstehenden
Laden im Erdgeschoss eines der vielen Brickstone-Häuser ins Restaurant „French Café“ – und installierte dort auf
Anregung von Samuel Mercer and Eva Aeppli große Tableaus aus eigenen Schwarz-Weiß-Fotografien mit atmosphärischen
Szenen aus französischen Cafés. Im Restaurant wurde auch eine große Skulptur von Niki de Saint-Phalle aus
dem Besitz von Samuel Mercer aufgestellt, die wiederum in ihren Aufnahmen von diesem Ort auftaucht. So verbanden
Vera und Mark Mercer französische Lebensart und Kunst mit amerikanischem Geschäftssinn. Der große, überraschende
Erfolg ließ sie weitermachen mit den Restaurants „V. Mertz“, benannt nach ihrem Mädchennamen, „La Buvette“
und jüngst „Boilerroom“, alle nur einen Steinwurf voneinander entfernt in Omahas Old Market.
Darüber hinaus betreibt die Fotografin seit einigen Jahren die so genannte „Moving Gallery“, die mal in den einen, mal
in einen anderen leerstehenden Raum in den historischen Gebäuden des Old Market für einige Wochen oder Monate
einzieht. Im „Artist’s Coop“ lädt sie einmal pro Jahr auch Gastkuratoren ein und bringt mal zeitgenössische Fotografie
aus Berlin, mal aus Lateinamerika nach Omaha. Dieser interkontinentale Brückenschlag wird durch mehrere Ausstellungen
ihrer Werke fortgesetzt, zunächst in ihrer Geburtstadt Berlin, anschließend in Hamburg, Triest und nun
nahe Wien.
Seit den 1970er Jahren hatte sie sich in erster Linie um die Erschließung des Old Markets, um die Vermittlung des Werkes
von Eva Aeppli und vor allem um ihre Restaurants gekümmert – auf Kosten der systematischen Weiterentwicklung
des eigenen Werkes. Über die Bekanntschaft mit John Morford, dem Innenarchitekten von Hotels der Hyatt-Kette
in Tokio, Seoul und Hongkong, stattete sie die dortigen Hotelrestaurants und Lobbys jüngst mit gigantischen Fotowänden
aus, bestehend aus Porträts, aufgenommen in Pariser Cafés, oder mit Bildern von asiatischen Märkten und
ihren Gemüsestillleben. Auch dies gleicht einem künstlerischen Brückschlag zwischen zwei einander noch immer fremden
Welten.
Die aufwändig komponierten Stillleben entstehen in Omaha oder Paris, wo Vera Mercer im Quartier Latin seit vielen
Jahren ebenfalls ein Wohnatelier besitzt und intensiv nutzt; so pendelt sie zwischen alter und neuer Welt regelmäßig
hin-und-her. Für ihre Stillleben besorgt sie sich deren Bestandteile von Jägern, aus Blumenläden und von den Gemüse-,
Frucht- oder Fischmärkten vor Ort; die Arrangements entstehen erst vor der und für die Kamera. Doch bis zu
dem von der Fotografin akzeptierten Bild auf dem Computerbildschirm respektive dem finalen Ausdruck ist es mitunter
ein langer Weg; viele Probedrucke wandern in den Abfall. Bestechend ist bei Vera Mercer schließlich die Qualität
jedes fotografischen Abzugs mit einer unglaublichen Räumlichkeit.
Alles dreht sich in ihren Stillleben – oder vielleicht treffender in der französischen Bezeichnung: Nature Morte – um
Nahrung und Speisen in rohester Form: frisch erlegtes Wildbret, Schweineköpfe, Fische oder Früchte. Kombiniert wird
dies eher sinnlich und ästhetisch, weniger bedeutungsgeladen, unter anderem durch Kerzenleuchter und wieder Blumenarrangements.
Damit umgibt sich die Fotografin in ihren Wohnungen in Frankreich und Amerika, und gleichzeitig
sind die herunterbrennenden Kerzen, die verwelkenden Blüten und Tierschädel eindeutige Vanitas-Motive. Sie gemahnen
als „menento mori“ auch an die eigene Sterblichkeit. Die mitunter überbordenden, barock anmutenden Inszenierungen
kippen dabei allerdings nie ins Dekadente um. Das gilt auch für ihre Farbaufnahme „Naked Deer Head“
mit dem titelgebenden Tierschädel, ein Motiv, das allegorisch für Vergänglichkeit steht, was durch das Motiv der verwelkten
Blumen im Bildvordergrund noch unterstützt wird.
Die Stillleben schillern in den schrillsten oder sattesten Farben, hergestellt auf dem hauseigenen Inkjetprinter, der seit
vielen Jahren die eigene Dunkelkammer ersetzt. Ihre Blumenbilder hingegen nimmt sie mittels der anschließenden
Bildbearbeitung häufig so sehr in ihrer natürlichen Farbigkeit zurück, dass man die Abzüge durchaus auch in die Zeit
des Piktoralismus datieren könnte. So bleiben ihre Blumenarrangements oder Gemüsebilder in Farbwahl und Komposition
– im Gegensatz zu den kombinierten Stillleben – sehr reduziert.
Vera Mercer positioniert sich mit solchen zeitlosen Bildern jenseits zeitgenössischer Kunstmoden; so lassen sich eher
Bezüge zum flämischen und holländischen Küchenstillleben herstellen.
In manchen Stillleben rückt sie die jeweilige Aufnahmesituation insbesondere durch die extremen Größenverhältnisse
ins Absurd-Surreale. Übergroße Rosenblüten beispielsweise, die sich eigentlich im Bildhintergrund zu befinden scheinen,
werden durch ihre bloße Größe zur Paraphrase, mitunter zur Bedrohung des eigentlichen Arrangements auf dem
kleinen Tisch davor. Und die räumliche Staffelung der leblosen organischen Dinge im Bildraum wird noch verwirrender,
wenn Vorder- und Hintergrund im endgültigen Bild kaum mehr zu unterscheiden sind.
Ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Stillleben und Blumenbilder von Vera Mercer bleibt somit das Spiel mit
den Größenverhältnissen, und einzigartig sind die ungewöhnliche Farbwahl, die gewagten, intuitiven Kombinationen
und die Sinnlichkeit der Oberflächen – zwischen Lebenslust und Vanitas.
Matthias Harder